Prolog

Prolog

 

Zusammengekrümmt saß die  Frau auf dem Stuhl, mit ihren Armen umfing sie sich selbst, hin und her schau­kelnd, stoßweise atmend, nicht registrierend, wie die unaufhaltsam rollenden Tränen in Verbindung mit der Wimperntusche lange schwarz-grau-anthrazitfarbene Spuren auf die  Wangen malten. Falten auf der Stirn, um die Augen und um den Mund zeugten auf der einen Seite von Kummer, Schmerz und Krankheit, wurden aber andererseits immer wieder durchbrochen von kleinen lus­tigen Lachfältchen, die dem trotz seiner von Traurigkeit verhangenen Gesicht einen hoffnungsvollen Schimmer gaben. Das leicht gewellte Haar fiel ihr ins Gesicht, weich, voll und hell, breitete sich im Nacken wie ein wärmender Schal aus, der die zuckenden Schultern berührte. Die Hände ballten sich zu Fäusten, lösten sich wieder, krallten sich in die Ärmel der lang fließenden Bluse. Aus dem Schluchzen heraus formten sich immer wieder Worte, Bruchstücke eines Satzes, gaben Einblicke in ein Leben voll schwerer Erlebnisse, unendlicher Arbeit, brennend heißem Seelenschmerz, klaffenden Verwundungen und abgrundtiefen Demütigungen.

„Ich … kann … nicht … mehr, … ich … bin … so fertig, leer, … ich … ertrage … es … so nicht … mehr …

In ihren Ohren summte und dröhnte es … und dennoch er­reichte sie wieder die warme Stimme des Freundes, beruhigend, aber auch fordernd, abzugeben von der Last, sich helfen zu lassen, sich frei zu machen von allem, was sich durch die mehr als fünfzig Jahre angestaut hatte, was jahrelang, ja jahrzehntelang verdrängt worden war, nicht mehr berührt wurde.

Ihre übermäßig geschwollenen Beine schmerzten, das At­men fiel ihr, bedingt durch Allergien, die immer wieder asthmaartige Hustenattacken hervorriefen und das augen­fällige Übergewicht schwer, jede Bewegung war Qual, und ganz hinten in ihren immer wieder abschweifenden Ge­danken blitzten auch hin und wieder Erinnerungen an helle und frohe Zeiten, Gelenkigkeit, Leichtigkeit, Fähigkeit, das Leben anzupacken.

Sie spürte die Sonnenstrahlen, die durch die offene Terras­sentür ihren Weg auf ihre Haut fanden, wohltuend, wärmend, belebend, öffnend, einen Pfad malend aus tiefs­ter Resignation in lichte Gefilde.

Sie öffnete mühsam unter Aufbietung der Willenskraft, die ihr immer noch geblieben war, an die sie kaum glauben mochte, die sie immer häufiger vergaß, ja ignorierte, ihre Augen, grüne Augen, tränenblind fast, und blinzelte in die Helligkeit, die schockierenden Kontrast zu der Dunkelheit ihres Fühlens bot.

Der Blick wurde weit, wanderte aus dem Haus, ging über die Felder und Wiesen, begleitet von der Stimme, die Mut zusprach, die führte, ging in die Ferne, durchdrang Raum und Zeit, flog Jahre zurück und zurück und zurück und weiter, weiter, weiter …